The Modern Magazine – Visual Journalism in the Digital Era

Zehn Jahre sind im Zine-Business eine lange Zeit. Schön, wenn uns ein Buch im Coffeetable-Format daran erinnert, wie schön, hässlich, anders, durchgeknallt, innovativ, stylisch, wichtig, obskur, tonangebend, provokant, albern und clever Magazine sein können. Auf über 200 Seiten zeigt Autor Jeremy Leslie, wie der Wandel der Presselandschaft eine schillernde Vielfalt am Zeitschriftenregal hervorgebracht hat. Das wirkt zuerst paradox. Doch mittlerweile ist klar: Das Internet gibt jungen Magazinmachern neue Möglichkeiten an die Hand, sich zu vernetzen, Nischenhefte zu präsentieren (und zu finanzieren), neue Vertriebswege zu finden und Communitys zu gründen.


Das klingt nun etwas theoretisch; dies ist das Buch aber keineswegs. Auf über 200 Seiten gibt es viel zu sehen, denn in The Modern Magazine liegt der Fokus auf dem Heftdesign. Unter der Prämisse, dass Magazine heute anders gedacht und gemacht werden als noch vor 20 Jahren, sind hier derart viele Titel versammelt, dass man als Leser kaum Schritt halten kann. Und jede Menge große und kleine Perlen für sich entdeckt. Ein Magazin über das aktuelle Kino muss kein Werbeblatt der Filmindustrie sein (Little White Lies) und ein Magazin für Frauen muss sich nicht lesen wie die Brigitte (The Gentlewoman). Es muss nicht mal auf Papier gedruckt werden (alle Artikel der T-Post finden auf einem Shirt Platz)! Einziges Manko: Deutsche Magazine kommen etwas zu kurz. Dabei hat der hiesige Markt doch mehr zu bieten als das Zeit Magazin, Der Wedding und 032c!


Jeremy Leslie ist übrigens auch für das Projekt My Favo(u)rite Magazine verantwortlich. Er betreibt den Blog magCulture und ist ein alter Hase, wenn es ums Magazin-machen geht: Seit den 1980er Jahren designt er Hefte wie Blitz und das Londoner Stadtmagazin Time Out.

Warum soll ich das lesen?
In dem Buch finden sich viele, viele schöne Abbildungen. Und darum geht’s doch bei einem Coffeetable-Book, oder?

Risiken und Nebenwirkungen
Du wirst dir auch noch einen Coffeetable anschaffen müssen. Ab zu IKEA!

> The Modern Magazine online

Sven Job

Der Wedding & Dummy

Was sich wiederholt, prägt sich besser ein. Darum bekommen wir, schon wenn wir in den Windeln liegen, so lange unseren Namen vorgesagt, bis wir es endlich geschnallt haben. Und darum erscheinen Magazine ja auch immer wieder, Woche für Woche, Monat für Monat. Oder Jahr für Jahr. Die Repetition ist der Königsweg, und darum machen wir diese beiden einzigartig schönen und wertvollen Hefte, die da Der Wedding und Dummy heißen, noch ein Mal. Schließlich gibt es etwas zu feiern: 40 Ausgaben “unabhängiges Gesellschaftsmagazin” (Dummy), das macht zehn Jahre. Und 5 Ausgaben sind es immerhin schon beim “Magazin für Alltagskultur” (Der Wedding), das aber auch nur einmal jährlich erscheint und sich dieses Mal das Thema “Geld” auf die Druckfahnen geschrieben hat.

Originelle Reportagen, dichte Fotostrecken und ein Heftdesign, das sich immer wieder neu erfindet: Hier sind zwei Magazine, die irgendwie alles richtig machen. Und da wir schon alles in den vorherigen Rezensionen (Der Wedding und Dummy) gesagt haben, was es zu sagen gibt, lassen wir nun die Bilder sprechen.

Der Wedding, Thema “Geld”

Dummy, Thema “Jubiläum”


Warum soll ich das lesen?
Damit wir es nicht noch einmal sagen müssen. Und betteln wollen wir nicht!

Risiken und Nebenwirkungen
Was sind das für ungewöhnlich schick gemachte Hefte, die du da mit dir rumträgst? Ein prekäres Leben in der Designagentur wartet schon.

> Der Wedding online
> Dummy online

Sven Job

Effilee

Zeig mir deinen Kühlschrank und ich sag dir, wer du bist. Neben einem gut sortierten Plattenschrank und einer aussagekräftigen Bücherwand, sollte der moderne Großstädter auch in der Küche exquisiten Geschmack beweisen. “Guacamole” kann mittlerweile selbst der Küchenlaie im Schlaf buchstabieren, genauso wie die Garzeiten für Rind, Schwein oder Kalb auch im Fieberwahn noch abgefragt werden können. Eine kochende Gesellschaft wird nicht nur durch unzählige TV-Formate bedient, sondern auch durch eine riesige Auswahl auf dem Printmarkt.

Seit 2008 erscheint von Hamburg aus Effilee, das 2004 als reine Online-Plattform namens Kochpiraten gegründet wurde. Aus der Masse an Veröffentlichungen, die sonst zum Thema im Zeitschriftenregal ausliegen, sticht Effilee nicht nur dank seiner kreativen Cover hervor (in diesem Jahr übrigens auch für einen LeadAward nominiert), sondern auch inhaltlich setzt sich das Magazin von den üblichen Rezeptsammlungen im Heftformat ab. Mit seinen Reportagen schaut Effilee über den Rand des Kochtopfes und wird damit auch für Leser interessant, die den Kochlöffel üblicherweise nur zum Anziehen der Schuhe gebrauchen.

Die aktuelle Ausgabe wirft beispielsweise einen Blick auf Kairos Kaffeehäuser und ihre Rolle in der ägyptischen Revolution. Solche Reportagen sucht man in anderen Food-Magazinen häufig vergebens. Frühere Ausgaben haben auch schon über Magersucht, EU-Bürokratie und den rechten Rand der Bio-Szene berichtet. Aber natürlich hat das Magazin auch das leibliche Wohl seines Lesers im Blick und bietet jede Menge Rezepte an, deren Präsentationen wahrlich appetitanregend sind. Warum sonst trägt das Heft auch den Titel “Magazin für Bauch und Umfang”? Guten Hunger wünschen wir.

Warum soll ich das lesen?
Auf Dauer werden Dosenravioli eintönig. Das muss selbst du feststellen.

Risiken und Nebenwirkungen
Das, was da nach zwei Stunden Arbeit auf deinem Teller liegt, sieht irgendwie anders aus als die Abbildung im Magazin. Die Dosenravioli waren wenigstens immer ehrlich zu dir.

> Effilee online

Florian Tomaszewski

Uncube

Eigentlich lassen wir Webzines links liegen und konzentrieren uns ganz auf Magazine, die wir auch in die Hand nehmen können. Diagnose haptische Zwangsfixierung und Papierfetisch, ganz klar. Doch bei Uncube machen wir mal eine Ausnahme; es ist schließlich auch gerade mit einem LeadAward als Webmagazin des Jahres ausgezeichnet worden. Das Fazit der Jury: Hier arbeitet ein Team aus Journalisten und Architekten an der Zukunft des Online-Journalismus. Schauen wir mal.


In einem Blog reiht sich Artikel an Artikel. Dabei kann verloren gehen, was ein Magazin ausmacht: das Zwingende, der Drang, das Heft immer wieder in die Hand zu nehmen. Das Magazin liegt im echten Leben neben dem Bett, der Kaffeemaschine oder dem Klo bereit und schreit: “Los, nun lies mich schon!”. Das Digitale antwortet mit der bekannten Horde kleiner Helfer: Twitter, RSS-Feed, Newsletter etc. etc. Aber ein Blog ist kein Äquivalent zum Magazin. Die Lösung? Das Heft ins Digitale überführen und an der ein oder anderen Stelle um die neuen Möglichkeiten wie Video-Clips erweitern.

Uncube macht genau das. Keine Aneinanderreihung von Bild, Text, Bild, Text, Text. Sondern verschiedene Formate für verschiedene Geräte entwickeln, was auf Laptop, Tablet und Smartphone in immer kleineren Maßstab auch ganz gut funktioniert – die Häppchen bleiben gleich, werden aber immer kleiner dargestellt. “Wie Print. Ohne Papier” beschreiben die Macher ihr Projekt. Das stimmt zum Glück nur zur Hälfte. Wer Uncube am Laptop durchblättert, dem fällt schnell auf: Das Magazin ist dafür nicht mehr gemacht, sondern auf mobile Nutzung ausgerichtet. Jede Seite hat nicht mehr als ein Bild oder einen kleinen Textabsatz.


Gerade ist Ausgabe 14 online gestellt worden, die sich unter dem Kampfbegriff “Small Town, Big Architecture” mit der Raumplanung nah und fern der Metropole beschäftigt. Vom architektonischen Freilichtmuseum Columbus, Indiana U.S.A. über eine größenwahnsinnige Ferienanlage der Nationalsozialisten auf Rügen bis Le Corbusiers städtebauliches Erbe in einem kleinen Ort – das Magazin überrascht mit ungewöhnlichen Bauten und Kuriositäten.

Die begleitenden Artikel stellen die Bauwerke in ihren urbanen Kontext und sind auch für den Laien interessant. So präsentiert sich Uncube: modern und nostalgisch, in allen Farbtönen zwischen schwarz und weiß. Wie Sichtbeton. Das Fundament für morgen steht.

Warum soll ich das lesen?
Benutze Deinen Tablet doch mal für was anderes als nur zum “The Big Bang Theory” schauen!

Risiken und Nebenwirkungen
Das Konzept Webzine gefällt dir doch ganz gut. Im Zeitschriftenkiosk sieht man Dich immer seltener. Und auf VADP auch.

> Uncube Magazine online

Sven Job

Übergang

Noch vor dem Editorial findet sich die Zeichnung eines U-Bahn-Abteils. Auf einer Plastikscheibe ein Graffito: “I really love a lot”. Die “Polyamorie” könnte man als so etwas wie das Leitmotiv des Übergang Magazins bezeichnen, und das nicht nur, weil sie auch das Thema eines Essays in der ersten Ausgabe ist.

Das erste Heft des Übergang Magazins ist dabei ganz seiner kulturellen und auch konkreten Herkunft gewidmet: dem Kottbusser Tor in Berlin. Dort in Kreuzberg haben Ton Steine Scherben mit “Macht kaputt, was euch kaputt macht” einst den Soundtrack für Hausbesetzer geliefert. Mittlerweile ist aus diesem Slogan “Macht was immer ihr wollt, was andere nicht kaputt macht” geworden. Das “Andere” wird gefeiert und gleichzeitig kritisch erkannt, wie man in diesem Feiern der Vielfalt in erster Linie sich selbst feiert: PolyEgoManie heißt der dazu passende Essay. Gedruckt nicht auf Hochglanz, sondern im Fanzine-Format.


Zelebriert wird die “Diversity” nicht nur durch ein Sammelsurium an Perspektiven, sondern auch auf einer stilistischen Ebene: Fotos und “Abject Art” stehen neben Essays neben Outsider-Kurzgeschichten und Gedichten neben Interviews und Berichten über den lokalen “Voo Store”. Geschrieben wird auf englisch und deutsch. Übergang macht klar: Die eineiige Zwillingsschwester der Ekstase ist immer noch die Melancholie, und das Gefühl des “Übergangs” beschreibt nicht nur sehr passend die dargestellte Generation, sondern wird auch ständig bedroht von Überfrachtung und der lakonischen Feststellung: Ist doch alles schon mal dagewesen. “‘How long have you been in Berlin?’, is consistently leveled”, so heißt es in einem Brief an Berlin. Und dann: “‘How long is enough?’”


Übergang stellt eher Fragen, als sie zu beantworten. Das Magazin hätte es verdient, auch jenseits des Kottbusser Tors gelesen zu werden. Act local, think Übergang.

Warum soll ich das lesen?
Die künstlerische Umsetzung der Theorien aus dem letzten Kulturwissenschaftsseminar “Von Judith Butler bis Julia Kristeva” begeistern dich? Lesen wird beim Übergang Magazin zur radikalen Praxis.

Risiken und Nebenwirkungen
Wie früher bei Videoclips mit schnellen Schnitten eine Epilepsie-Warnung eingeblendet wurde, müsste hier vor philosophischer Epilepsie gewarnt werden.

> Übergang online

Ulrich Mathias Gerr

Seite 40 von 61« Erste...102030...394041...5060...Letzte »