Die besten Geschichten findet ein Reporter immer noch vor der eigenen Haustür. Auch so eine Binsenweisheit, die in jeder Journalistenschule gelehrt wird (mutmaßt der Autor dieser Zeilen einfach mal, er hat ja nie eine von innen gesehen). Vermutlich ist da was dran, schließlich braucht heute niemand für eine gute Geschichte um die halbe Welt zu reisen – wer soll das auch bezahlen? – und der Lokaljournalismus erlebte dank des Internets ein erstaunliches Comeback. Das sich mit dem Credo “Auf der Straße warten die Storys” sogar ein Magazin stemmen lässt, beweist Flaneur. Wobei es hier korrekterweise heißen muss: “Auf einer Straße warten die Storys”.
In seiner ersten Ausgabe widmet sich das englischsprachige Heft ausschließlich der Kantstraße in Berlin. Auf einer Länge von gut 2 Kilometern zieht sich diese durch Charlottenburg, einmal quer über den Savignyplatz, am östlichen Ende die Gedächtniskirche, im Westen das Amtsgericht von Charlottenburg. Dazwischen jede Menge Leben und Erlebnisse. Flaneur erzählt diese auf 110 kunst- und geheimnisvollen Seiten. Findet alternative Nutzungsmöglichkeiten für den grünen Mittelstreifen der Straße, stellt Läden und ihre Besitzer vor, zeigt einen berauschten Abend am Tresen und lässt einen Kellner der berühmt-berüchtigten Paris Bar zu Wort kommen.
Dabei ist Flaneur wunderbar verschwenderisch. Zwischen Kunst und Reportage fordert es seinen Leser heraus. Nicht alles ist so deutlich wie die Fotoserie “A Night At Goldener Löffel”; manches ist erst einmal abstrakter und für den Leser undurchsichtiger. So legt man das Heft auch zunächst gar nicht aus der Hand, will entdecken und verstehen. Kein Fremder mehr auf der Straße sein. Ihr Wesen begreifen, die Typen kennen. Jede Straße erzählt tausende Geschichten – wir müssen nur genau hinhören.
Warum soll ich das lesen?
Es gibt Magazine über Länder, Regionen, Städte. Ein Magazin über eine einzige Straße ist der logische Schritt.
Risiken und Nebenwirkungen
Wir wagen uns kaum auszumalen, was dann der nächste Schritt ist…
Florian Tomaszewski