“Zeig mir dein Obdachlosenmagazin und ich sage dir, was für eine Stadt du bist.”
Arm und sexy, das ist Berlin. So kann eine Rezension über ein Obdachlosenmagazin eigentlich nicht beginnen. Ich versuche es trotzdem.
Urlaub, rumkommen, die Seele baumeln lassen: Mit dem klassischen und immergrünen Thema “Fernweh” macht strassenfeger seine zweite Ausgabe des neuen Jahres auf. Ferne Straßen, die in die ganze Welt hinauszeigen kontrastieren mit der Banderole, die auf den Servicecharakter einer “Sozialen Straßenzeitung” (Eigenbezeichnung) hinweist: “Mit Hartz-IV-Ratgeber!” Der Titel selbst ist so New Age – der sticht definitiv ins Auge. Jetzt muss der Inhalt einlösen, was Seite 1 grell verspricht.
Ein Reiseheft der unkonventionellen Art: Manuela schreibt über Neuseeland, Andreas greift die grenzenlose Weite des Covers auf, ihn zieht es zu den Sternen. Alle Aspekt einer Reise werden der Analyse unterzogen: Auch digital kann man reisen und dabei zuhause sitzen bleiben. Und dass das sowieso alles Quatsch ist, erklärt Manfred – die elende Herumreiserei führt zu öden Dia-Abenden, ist gefährlich und ungesund. Recht hat er. Auch schöne Meinungsstücke landen in strassenfeger. Polemik, Wissenschaft und Geschichte (die Erfindung des Reisepasses, der Kolonialismus) – alles drin. Das Heft blickt weit nach draußen, über Berliner Grenzen hinaus. Eigentlich schade, wollte ich doch die Befindlichkeit dieser Metropole, über die auch sonst so viel geschrieben wird, anhand dieser Straßenzeitung ergründen; der klassische Vorführeffekt.
So ein Magazin ist immer auch für seine Klientel gedacht: Menschen “am Rande der Gesellschaft”. Darum der Ratgeber, darum der Abriss der letzten Weihnachtsfeier mit Frank Zander, zu der der beliebte Sänger wie jedes Jahr 2800 Obdachlose und bedürftige Menschen geladen hatte. Autorin Püppilotta rechnet mit Gästen ab, die dort abgegriffen haben, was sie nur tragen konnten. Es war ein tolles Fest, aber Egoisten gibt es eben überall.
Vielleicht ist es ja so: Der Berliner gibt sich mit nicht weniger als der Welt zufrieden. Und er ist partybewusst, immer: Auf den Veranstaltungsseiten des strassenfeger, frisch von der Straße, wird auch eine Party im Berghain angekündigt. Dit is Berlin, Alter.
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Sven Job