Noch vor dem Editorial findet sich die Zeichnung eines U-Bahn-Abteils. Auf einer Plastikscheibe ein Graffito: “I really love a lot”. Die “Polyamorie” könnte man als so etwas wie das Leitmotiv des Übergang Magazins bezeichnen, und das nicht nur, weil sie auch das Thema eines Essays in der ersten Ausgabe ist.
Das erste Heft des Übergang Magazins ist dabei ganz seiner kulturellen und auch konkreten Herkunft gewidmet: dem Kottbusser Tor in Berlin. Dort in Kreuzberg haben Ton Steine Scherben mit “Macht kaputt, was euch kaputt macht” einst den Soundtrack für Hausbesetzer geliefert. Mittlerweile ist aus diesem Slogan “Macht was immer ihr wollt, was andere nicht kaputt macht” geworden. Das “Andere” wird gefeiert und gleichzeitig kritisch erkannt, wie man in diesem Feiern der Vielfalt in erster Linie sich selbst feiert: PolyEgoManie heißt der dazu passende Essay. Gedruckt nicht auf Hochglanz, sondern im Fanzine-Format.
Zelebriert wird die “Diversity” nicht nur durch ein Sammelsurium an Perspektiven, sondern auch auf einer stilistischen Ebene: Fotos und “Abject Art” stehen neben Essays neben Outsider-Kurzgeschichten und Gedichten neben Interviews und Berichten über den lokalen “Voo Store”. Geschrieben wird auf englisch und deutsch. Übergang macht klar: Die eineiige Zwillingsschwester der Ekstase ist immer noch die Melancholie, und das Gefühl des “Übergangs” beschreibt nicht nur sehr passend die dargestellte Generation, sondern wird auch ständig bedroht von Überfrachtung und der lakonischen Feststellung: Ist doch alles schon mal dagewesen. “‘How long have you been in Berlin?’, is consistently leveled”, so heißt es in einem Brief an Berlin. Und dann: “‘How long is enough?’”
Übergang stellt eher Fragen, als sie zu beantworten. Das Magazin hätte es verdient, auch jenseits des Kottbusser Tors gelesen zu werden. Act local, think Übergang.
Warum soll ich das lesen?
Die künstlerische Umsetzung der Theorien aus dem letzten Kulturwissenschaftsseminar “Von Judith Butler bis Julia Kristeva” begeistern dich? Lesen wird beim Übergang Magazin zur radikalen Praxis.
Risiken und Nebenwirkungen
Wie früher bei Videoclips mit schnellen Schnitten eine Epilepsie-Warnung eingeblendet wurde, müsste hier vor philosophischer Epilepsie gewarnt werden.
Ulrich Mathias Gerr